Das letzte Abendlicht

Nach dem offiziellen Sommerende diese Woche noch eine kleine Rückschau auf den heurigen Sommer, der keiner war. Letzte Meldungen aus der Sommerfrische
Ruth Beckermann, 2014

Der Sommer kündigte sich täglich neu an. Der Sommer kommt bestimmt, meinte der eine, vielleicht erst nächstes Jahr, lachte der andere. Den Kindern war das egal, sie springen ins kalte Schwimmbecken, sie arbeiten fleißig in der Sandkiste, sie spielen Fangerl auf der Wiese. Die Kinder rufen und schreien, dürfen endlich laut sein. Sie probieren ihre Stimmen aus. Jeden Nachmittag kommen sie in das Bad, das Strandbad heißt, weil in seiner großen Zeit jedes Jahr venezianischer Sand vom Lido an die Rax transportiert und rund um das Becken aufgeschüttet wurde. Die Schulferien haben begonnen, die Massen rollen gegen Süden auf der Suche nach dem feinsten Sand. Zurück bleiben die Kinder, die sich's nicht aussuchen können, und wir, die wir nichts suchen. Die wissen, dass Eintönigkeit die Zeit dehnt, und versuchen, diesen Sommer durch täglich gleiche Abläufe über seine wenigen Wochen hinaus zu strecken. Wie in der alten Zeit der Sommerfrische packten wir uns zusammen, als gelte es zu übersiedeln. So als wäre die Stadt nicht nur eine knappe Stunde entfernt.

Wir suchen nichts, wir suchen das Fast-Nichts der Morgenfrische und des letzten Abendlichts, diesen Moment, den der Philosoph Vladimir Jankelevitch das „presque rien“ nannte. Wenn der Bademeister sagt, jetzt ziehe die „scharfe Raxbrise“ auf, dann würde es „hereineiseln“, und zum Himmel deutend meint: „Nevada beige“. Wenn der Regen plötzlich scharf niederpeitscht und alle zu laufen beginnen. Die Mütter, die um ihre im Garten baumelnde Wäsche bangen, überholt von den Kindern in Badehosen, das Handtuch über dem Kopf, glücklich über die großen Tropfen auf ihren heißen Körpern. Schamrot kehrt eine der Mütter um, rennt zurück. Sie hat ihr Kleinstes vergessen, das nackt in der Wiese sitzt und verwundert die feuchten Grashalme betrachtet. Bedrohlicher als die verregneten Bilder ist die Tonspur: das Grollen des heranrollenden Donners und der Wutschrei des Bademeisters, als eine ältere Frau gerade jetzt ins Schwimmbecken springt. „Raus, raus, der Blitz!“

Nur kleine Fische
Heute ist es leise im Strandbad. Nur wenige Kinder tollen im Wasser rum. Der neue Pächter hat ein Zelt aufgestellt, in dem ein großer Fernsehapparat steht. Die Kinder spielen ein Videospiel. Es ist immer dasselbe Spiel, ein Autorennen. Plötzlich liegt das Strandbad an der Rennstrecke von Monte Carlo. Für den neuen Pächter ist das Bad nur ein kleiner Fisch. Er hat Großes vor in diesem Ort. Das überdimensionierte Postgebäude aus den 80er-Jahren hat er gekauft, und das Grundstück daneben, wo einmal das Parkhotel stand. Dort will er eine Shopping-Mall errichten und obenauf ein Hotel setzen. Aber das ist nicht alles, sagt der neue Pächter. In der ehemaligen Post, die er bereits neonpink anstreichen ließ, soll eine Outdoor-Schule untergebracht werden, und vor dem Bad steht bereits eine Kompanie gefleckter Militärjeeps, bereit für die Alpensafari. Einer sagt, die Kriegsgewinnler hätten die Gegend entdeckt. Diejenigen, welche bereits reich sind, „die Russen“, bauen monströse Villen, die anderen versuchen, mit sogenannten Geschäftsideen reich zu werden. Am Semmering hat einer, den alle „den Ukrainer“ nennen, groß eingekauft: das Grand Hotel Panhans, den Hirschenkogel mit allen Liften, das Erzherzog Johann, das Sporthotel usw. Oben eine Bar, unten eine Bar, Biker-Club und Billigangebote. Er entwickelt. Andere lassen verfallen, wie die Kasachen und Chinesen, die das Kurhaus Semmering erwarben.

Am Nachmittag kommen die Schauspieler und die Wanderer und die Sommergäste zur Abkühlung ins Strandbad. Jeder spricht übers Theater. Jeder spricht über Schnitzler und Freud. Alle tun so, als wäre die mondäne Welt zur Sommerfrische – wie damals. Nein besser als damals, denn jetzt bleibt man unter sich, verehrt seine Schauspieler und hat's nicht mit neumodischen unchristlichen Künstlern zu tun.

Regungslose Rehe
Eine Psychoanalytikerin sagt, es sei doch überall so, dass man die großen Namen vermarkte. Cézanne in Aix-en-Provence, Joyce in Dublin, was mich denn daran störe, dass man sich hier mit Freud und Schnitzler schmücke. Es kommt ihr nicht seltsam vor, dass man nun die Werfel und Altenberg und Krenek und Kokoschka benutzt, die man selbst rausgeworfen hat. Sie fragt sich nicht, wer sie rausgeworfen hat. Und wo die Bücher über die Ariseure und Profiteure von der Rax bleiben.

Es regnet. Die beiden Rehe, die eine Stunde lang regungslos am Hang standen, haben sich in den Wald zurückgezogen. Sie wissen nichts von toten Fluggästen auf ukrainischem Boden, toten Afrikanern in italienischen Gewässern, demonstrierenden Muslimen in den Straßen, Intifada und Juden raus. Hier sind keine arabischen und türkischen Menschen zu sehen. Und wenn schon. Solange sie als Gäste kämen und gute Trinkgelder geben, würden alle ihnen ins Gesicht lachen, wie sie uns ins Gesicht lachten, in den 50er- und 60er-Jahren, als die Wiener Juden, die eigentlich ungarische und polnische und rumänische Juden waren und, weil sie auch arme und ungebildete und überlebende Juden waren, keine Ahnung hatten von Schnitzler und Freud, als sie hierherkamen auf Sommerfrische. „Noch ein Kaffee, gnä' Frau? Und ein Schnittlauchbrot für die Kleinen, und natürlich dürfen sie mit in den Kuhstall, und beim Heu dürfen sie auch helfen.“ Aber lauschend nah dem bäuerlichen Küchentisch, wo die tägliche Kronen Zeitung lag, hörte ich von Judenbagage, aber was sollen wir machen, alle san's wieder da, aber zum Glück, kommt ja sonst keiner. Es kam sonst keiner, aber wir waren da! Wir Kinder und manche Mütter und andere Kindermädchen in den Pensionen und Bauernhöfen und Mietwohnungen, am Wochenende auch die Väter im Kurpark an allen Tischen Karten spielend. Wir waren viele, wir kannten einander alle, wir hatten keine Ahnung, wo wir waren. Doch unsere Eltern waren glücklich im habsburgischen Ambiente. Wie auch immer waren sie in der ehemaligen Kaiserstadt angelangt und konnten es sich leisten, ihren Kindern eine Sommerfrische zu gönnen, mit Ruderboot und Tennislehrer.

Kein Badewetter – keine Neuigkeiten
Sechzehnter Tag der Kämpfe. Die meisten Fluglinien setzen Flüge nach Tel Aviv aus. In der Falle. Kein Weg hinaus. Nicht allein Gaza ist ein Freiluftgefängnis. Für die Journalisten zählt allein die asymmetrische Zahl der Toten. Sie stellen (sich) keine Fragen. Wieso wussten und berichteten sie und all die Uno- und Rotkreuz-Leute nicht längst von dem Tunnelnetz, das Gaza unterirdisch verdoppelt? Wieso ließ die israelische Intelligence es so lange wachsen, sich stabilieren und betonieren und elektrifizieren?

Kein Badewetter – keine Neuigkeiten. Die Kinder müssen daheimbleiben mit ihren Müttern. Ich wünsche mir, dass sie rund um den Küchentisch hocken und Schmalzbrote verschlingen, während sie stundenlang Karten, Domino oder Monopoly spielen. Dass sie sich unbemerkt hinausschleichen, auf ihre Räder schwingen und dem Sommerregen entgegenfahren. In die Nachmittagsvorstellung können sie nicht, weil es kein Kino mehr gibt. Wo heute Theater gespielt wird, sahen wir uns vergnüglich Gunther-Philipp- und Peter-Alexander-Filme an.

Genuss des Augenblicks
Russische Zone, tote Zone bis 1955, und danach fuhren die Leute mit ihrem Auto nach Caorle und Jesolo, und dann flogen sie nach Mallorca und in die Türkei, eine knappe Woche, das bräunt und ist schick. Die Sommerfrische verursacht keinen Kick. Immer noch dem örtlichen Denken verhaftet, fällt es schwer, sich vorzustellen, dass nur eine Autostunde von zu Hause entfernt eine andere Zeit regiert. Dass die Natur die Zeit bestimmt, bei Gewitter Sicherungen ausfallen und man früh aufstehen muss, um rechtzeitig wieder vom Berg runterzukommen.

Die Zeit selbst als der Stoff von allem, das existiert, wird einem hier bewusst. Nichts ist so unschuldig wie der Genuss des Augenblicks, schreibt Jankelevitch, der Genuss des ersten Lichts am Morgen, einer intensiven Begegnung - der Augenblick ist einmalig, hier und jetzt und nie wieder. Das ist sein Charme, der jedoch keine Gabe ist, sondern eine Aktion, ein Engagement, das außerordentliche Vitalität und höchste Konzentration erfordert. Man braucht Mut, damit der Augenblick genutzt werden kann und zu dem wird, was die Griechen „kairos“ nannten, die günstige Gelegenheit. Der Augenblick hat die Kapazität, unser Leben zu verändern, einen Zufall in eine Notwendigkeit zu verwandeln. Die Natur der Zeit und des Augenblicks verstehen, heißt, die Freiheit des Menschen begreifen. Freiheit heißt nicht, „alles tun können“, sondern entscheiden, jetzt sofort, im Augenblick.

Will keine Meinung hören
Den ganzen Tag nichts getan. Dem Wetter zugesehen. Jetzt, um acht Uhr abends, blauer Himmel. Hinaus, gehen, gehen. Vorbei am Bad, an Herzls Grab, an den vielen gleichen Häusern, jedes mit einem kleinen Haus für das Auto davor. Die Siedlung steht dort, wo einmal das Grandhotel Edlacher Hof war. Auf den Straßen kein Mensch, in den Häusern kaum Licht. Die elektronische Kommunikation benötigt keine Kandelaber, und die Kleinfamilie hat schnell aufgegessen. Ein Grandhotel dagegen lebt vom Rhythmus einer Gesellschaft. Von Gästen, die sich jetzt langsam zum Abendessen an ihre angestammten Tische begeben, die Stoffservietten aus den mit ihren Namen beschrifteten Täschchen nehmen und sich umschauen, sich umwenden zum Nebentisch, einander von ihrem Tag erzählen, eine Nachricht aus der Abendzeitung besprechen, weniger von Wanderroute und besonderen Beerenplätzen berichten, als leise das Wer-mit-wem der Töchter und Söhne, Neffen und Nichten deuten und zu lenken versuchen.

Die Wiesen sind grün, die Kühe fressen den ganzen Tag, die Menschen reden von ihren Wanderungen. Niemand spricht vom Nahen Osten. Ich spreche mit niemandem darüber. Will keine Meinung hören. In Sarcelles brennen Geschäfte nordafrikanischer Juden, in Bischofshofen werden israelische Fußballer attackiert, in Deutschland schreit man wieder mal „feiges Judenschwein“. Ich radle in den nächsten Ort, um ein deutsches „Qualitätsblatt“ zu kaufen. Dort gibt es weder Analyse noch Reportage, nur Unbehagen über die allzu israelfreundliche Haltung von Frau Merkel.

Wir beginnen den Tag mit den Nachrichten, surfen durch die internationale Presse auf der Suche nach Erklärungen. Plötzlich ist uns die Invasion der Nacktschnecken egal. Uns verlässt der Mut, den Augenblick zu einem günstigen zu gestalten. Die Gelassenheit der Sommerfrische geht zu Ende.

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in: Album, Der Standard, 27./28.09.2014

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