OVERTURNING THE SCREEN OF CLICHÉS

Ruth Beckermann, 2018


„Ein Kunstwerk sollte uns immer lehren, dass wir nicht gesehen haben, was wir sehen.“
Paul Valéry


Ich weiß nicht, was real ist. Was ich weiß: Dass die Wirklichkeit jenseits eines Wandschirms von Klischees liegt (John Berger). Jede Kultur produziert einen solchen Wandschirm, um ihre eigenen Praktiken zu erleichtern und ihre Macht zu festigen. Die Wirklichkeit ist jenen feindlich, die Macht haben. Besonders virulent wird die Frage nach dem Realen immer in Zeiten großer gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und technologischer Umbrüche. Also jetzt! Der Gefahr der Zensur in einem Teil der Welt steht die Gefahr der Auflösung aller Schranken im Westen gegenüber, das totale und totalitäre laissez passer, das Verschwinden der gatekeeper.

Am Mechanismus der Bedrohung hat sich jedoch wenig verändert: Was früher Lüge genannt wurde, nennt man nun alternative Fakten, aus Bildretusche wurde digitale Manipulation. Die grundlegende Veränderung – und Gefahr – liegt in der Demokratisierung der Lüge und ihrer Millionenfachen Verbreitung. Jeder einzelne kann heute Fakten- und Bilderfälscher für ein globales Publikum sein. Die bürgerliche Öffentlichkeit, verkörpert durch eine Vielfalt an Qualitätszeitungen und wenigen TV-Stationen, löst sich auf, was zur Folge hat, dass Inhalte an eine weltweite Öffentlichkeit gelangen, die früher lediglich auf der Couch oder im Wirtshaus geäußert wurden. Journalisten, Redakteure und Kuratoren hätten die Mehrzahl der postings und Facebook-Eintragungen sofort in den Müll geworfen. In der sogennanten freien Welt fallen ungehindert die Schranken. Einerseits. Andererseits baut sich eine neue Moralpolizei auf, die immer weiter in die Privatsphäre der Menschen eindringt und unser Leben durch totale Rauchverbote und sexuelle Anstandsregeln zu kontrollieren versucht.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Debatte darüber, welcher Film fiktional, welcher dokumentarisch sei, etwas überholt und ich frage mich, ob sie jemals mehr Berechtigung hatte, als zur Unterscheidung für Programmierungen oder als Bezeichnung für Festivals zu dienen. Jeder Dokumentarfilm ist ein Konstrukt und jeder Spielfilm ist auch ein Dokumentarfilm – über die Schauspieler, die darin spielen, die Orte und das Mobiliar. Wir lieben alte Filme unter anderem deshalb, weil sie uns in ein Museum der Architektur, der Mode, der Fahrzeuge entführen.

Ich habe zwei Filme in rascher Folge gemacht, von denen einer als Spielfilm oder Hybrid gehandelt wird, der andere als strenger Dokumentarfilm. Der eine ist ein Kammerspiel über ein Liebespaar, der andere montiert Archivmaterial über einen unehrlichen mächtigen Mann. Für mich sind die Schubladen, in die Kuratoren und Kritiker meine Filme schieben oft nicht wirklich nachvollziehbar. Geht es doch immer und immer neu um die Suche nach der richtigen Form, um etwas sichtbar zu machen, das wir so nicht gesehen haben.

Mein Film „Die Geträumten“ beruht auf einem real existierenden Briefwechsel zwischen zwei real existierenden Personen, Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Die Briefe werden von zwei jungen Menschen gelesen, die keineswegs die beiden Poeten spielen. Sie lesen hier und jetzt Briefe, also Dokumente. In den Lesepausen reden sie miteinander - ohne Skript - über alles Mögliche, das ihnen durch den Kopf geht, ob Tattoos oder die Liebe. Alles real oder dokumentarisch würde man meinen. Und doch zeigt der Film – für mich selbst überraschend – dass aus dokumentarischen Ingredienzien ein fiktional anmutendes Gebilde entstehen kann. Natürlich beinhaltet bereits das Ausgangsmaterial – die Briefe – fiktionale Elemente wie Wünsche, Illusionen, Phantasien, wobei wir diese spätestens seit Freud für ziemlich real halten. Den größten Anteil an der Fiktionalisierung des Films haben jedoch die Zuseher. Sie sind es, die die beiden Lesenden mit den historischen Figuren identifizieren. Vor ihren inneren Augen entstehen romantische Bilder der Liebenden an den Ufern der Seine oder in einem Hotelzimmer mit Blick auf den Kölner Dom. Film kann vor allem Projektionsfläche sein.

Oder vor allem Analyse: Der andere Film, „Waldheims Walzer“ erzählt vom Aufstieg und Fall des ehemaligen UN-Generalsekretärs und österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim ausschließlich mit Archivmaterial. Dokumentarischer kann Material nicht aussehen, und doch wurde es nach meinen Gedankengängen und Assoziationen montiert und kommentiert. Ich betrachtete es lange Zeit von allen Seiten, um schließlich die für mich dreißig Jahre nach den Ereignissen und im Angesicht der heutigen Weltlage gültige Wahrheit darin zu entdecken. Wie jeder historische Film ist auch dieser Fiktion, weil wir die Geschichte immer nach unseren gegenwärtigen Bedürfnissen umschreiben, mag es durch Auswahl, Montage und Text geschehen oder durch Drehbuch und aufwendige Spielszenen. Obwohl die Waldheim-Affäre nicht allein in Österreich noch in guter Erinnerung ist, überraschte der Film, nicht mit neuem Material, sondern durch eine andere Perspektive auf das Material.

Darauf kommt es an! Heute wie eh und je. Ob analog oder digital, mehr dok oder mehr fiction: Zu überraschen, zu erstaunen, zu verärgern, zum Nachdenken zu bewegen, zu überrumpeln, zu verführen! Nicht allein durch die Form, nicht allein durch das Aufbrechen von Sehgewohnheiten. „Ethik ist Ästhetik“, sagte Wittgenstein. Die Filme Chris Markers sind nicht allein wegen ihrer geschliffenen Kommentare herausragend, das Kino Frederik Weismans nicht allein wegen der zur Meisterschaft entwickelten Form des direct cinema und Robert Frank und Chantal Akerman sind nicht allein wegen ihrer radikal subjektiven Bilder und Töne interessant. Sie alle und viele (aber nicht genügend viele) mehr eröffnen uns eine Welt, indem sie sich selbst dieser Welt stellen und aussetzen. Sie lassen sich auf das Wagnis ein, den eigenen Gedanken und Wahrnehmungen eine Form zu geben, die sie für die einzig richtige halten, ob das nun vielen Menschen gefällt oder nur einigen Wenigen. Jede Beziehung zum Sein sei gleichzeitig Ergreifen und Ergriffenwerden, schrieb Merleau-Ponty. Ich begegne Dingen, weil die Dinge auch mir begegnen können. Der Film ist das Kind dieser Begegnung. Lebendig wird es durch den Blick des Zuschauers. In dem Zwischenraum zwischen meinem Blick auf die Welt und dem Blick des Zuschauers auf meinen Blick (wobei jeder Zuschauer seinen eigenen Blick auf die Welt ins Kino mitbringt), entsteht der Film.

Ob Essay, Hybrid oder strenger Dokumentarfilm – was das Kino vom Fernsehen unterscheidet ist sein Zweifel an der Welt, während das Fernsehen in einem endlosen Strom von Bildern und Tönen glauben macht, die Welt sei in Ordnung. Kino weckt auf, Fernsehen schläfert ein.

Bewahren wir dem Kino seine Widerständigkeit! Zu der oben erwähnten Medienmisere kommt nämlich ein Konsumverhalten, das nicht allein die Zuseher, sondern auch seriöse Filmfestivals zusehends erfasst. Jedes möchte das erste und größte sein. Ist ein Film einmal entjungfert, landet er oft ganz ungerechtfertigt auf Nebenschauplätzen. Auch Weltvertriebe und Filmverleihe beugen sich den oberflächlichen Vorlieben des Publikums oder vielmehr dem, was sie dafür halten.

In der heutigen Situation scheint mir die Produktion und Verbreitung analytischer Filme, die Zusammenhänge im Dschungel der Informationen herstellen besonders wichtig zu sein. Was fehlt, sind neue engagierte Netzwerke zur Verbreitung kritischer Filme. Nicht allein im Netz, sondern dort, wo reale Menschen einander begegnen. Vielleicht müssen wir Filmemacher robuster sein und kleine screens und schlecht eingestellte beamer aushalten. Vielleicht müssen neue Kinos entstehen, die der Ästhetik des 21.Jahrhunderts entsprechen. Es scheint jedenfalls so, als wäre die Zeit relativer Sicherheit und Ruhe, die Zeit der Muße, auch noch den kleinsten Nebenwiderspruch und die winzigste Differenzierung (all die Geschlechter, all die Kriege der Opfer!) zu thematisieren vorbei. Ein rauer Wind zog auf und fordert das Kino heraus, sich wieder vermehrt Fragen des Kollektivs und der Gesellschaft zuzuwenden.
Doch im Grunde geht es immer um die Suche nach der Wahrheit. Darum, einen Wandschirm von Klischees umzuwerfen. Jeder Film kann nur ein Schritt auf dieser Suche sein. Das ist viel.

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Renverser l’écran de clichés/Overturning the Screen of Clichés,
in: Andréa Picard (Ed.), Qu’est-ce que le réel?
Des Cinéastes prennent position (Paris: Post-Editions), 2018
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