MUTZENBACHER

Seit mehr als hundert Jahren wird der Roman „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“ wegen seiner lustvollen Darstellung kindlicher und weiblicher Sexualität kontrovers besprochen. Anonym publiziert und über viele Jahrzehnte dem österreichischen Schriftsteller Felix Salten („Bambi“) zugeschrieben, wurde er zeitweise verboten und gleichzeitig als wienerische Literatur von Weltrang gefeiert.

Mit einem Zeitungsaufruf lädt Ruth Beckermann zu einem Casting für einen Film ein, der den bekannten pornografischen Roman zur Grundlage hat: „Männer zwischen 16 und 99 Jahren gesucht“. Der Film MUTZENBACHER konfrontiert in einer ehemaligen Sargfabrik in Wien hundert Leser mit Auszügen aus dem Werk. Und wie im richtigen Leben evoziert die Lektüre “anstößiger Passagen“ auch am Filmset Erinnerungen, erotische Vorstellungen, aber auch Ablehnungsreaktionen, Wir leben und lieben in einer Zeit, in der Sex mehr denn je allgegenwärtig ist, aber gleichzeitig auf ein moralisch hochgradig aufgerüstetes Umfeld trifft.

„Mal unbequem, mal lustig, immer aber fesselnd und erkenntnisreich.“
Michael Kienzl, Filmdienst, 02/2022
 
“Ein furioses Kunststück. Selten so einen im besten Sinne verstörenden Film erlebt.”
Manuel Schubert, taz blogs, 14.02.2022

“[...]ein Glücksfall von einem Film.”
Julia Schafferhofer, Kleine Zeitung, 20.02.2022

“MUTZENBACHER [erzählt] eine schillernde Geschichte über Männlichkeit, die unter Druck gerät - von den Männern selbst erzählt.”
Alexandra Seibel, Kurier, 15.02. 2022

“Ruth Beckermanns neuester Streich [ist] nicht nur einer der verstörendsten, sondern auch wichtigsten Filme der Berlinale.”
Lisa Ludwig, Moviepilot, 18.02.2022
 

Buch Ruth Beckermann & Claus Philipp
Regie Ruth Beckermann
Bild Johannes Hammel
Ton Andreas Hamza
Montage Dieter Pichler
Regieassistenz Rebecca Hirneise
Produktionsassistenz Eva Rammesmayer 
Produktion Ruth Beckermann Filmproduktion
 

REGIESTATEMENT RUTH BECKERMANN

Als Wiener Kind stolperte ich relativ früh über die Geschichte der Mutzenbacher. Wie viele andere las ich sie auch als Einführung in die Praxis der Liebeskunst. Man fand sie als Raubdruck im Nachtkastl der Eltern oder unter dem Ladentisch eines Buchhändlers und schließlich, in den 1970er Jahren als überall erhältliches Taschenbuch. Sie passte in den Zeitgeist der sog. sexuellen Revolution und war doch so garnicht modern. Schließlich erinnert sich die Protagonistin des Romans als 50jährige Frau an ihre Kindheit und Jugend gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie erzählt von engen Wohnverhältnissen in der Wiener Vorstadt, von Handwerkern und Arbeitern. Vor allem ihre Sprache, ihr Wienerisch, gespickt mit unzähligen Mundart-Ausdrücken für die Geschlechtsorgane, ja die Geschlechtlichkeit schlechthin, waren meiner Generation kaum mehr geläufig. Und doch spürte man im Wien der 60er Jahre noch die Atmosphäre dieses Romans, wenn man das Gedränge um die Bassena erlebte oder die ungewollte Intimität der Bewohner von Zinshäusern, wo sich die Klosetts am Gang befanden. Ich erinnere mich besonders an die Hitze und Enge in den Straßenbahnen, die einen im Sommer an die Alte Donau brachten,aber auch an die Freiheit, die wir Kinder hatten, deren Eltern mit Wiederaufbau und Wohlstand beschäftigt waren. Und natürlich waren die Ausdrücke, die man da und dort aufschnappte, von keinerlei Scham oder Korrektheit gehemmt.

Heute ist Sex in allen Medien. Zugleich ist Sex kein Thema. Wie kann das sein? Woher kommt die Art und Weise, wie die westliche Welt mit Sexualität umgeht? Der französische Philosoph Michel Foucault untersuchte in den 1970er Jahren das abendländische Verhältnis zur Sexualität und kam zu dem bis heute gültigen Schluss, „dass die modernen Gesellschaften sich nicht dadurch auszeichnen, dass sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern dass sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen.“ Das Geheimnis muss im Beichtstuhl gestanden, vor dem Polizisten zugegeben und dem Arzt vertraulich mitgeteilt werden. Wer spricht also über Sex? Der Pfarrer, der Papst, der Richter, der Mediziner und die Medien. Mit diesem Film habe ich unter anderem versucht, diese Hegemonie für einen Moment aufzubrechen.
 
© Ruth Beckermann Filmproduktion
© Ruth Beckermann Filmproduktion
© Ruth Beckermann Filmproduktion
© Ruth Beckermann Filmproduktion
© Ruth Beckermann Filmproduktion
© Ruth Beckermann Filmproduktion